Natur-Abbild? Trugbild? Sinnbild?
• Ästhetik: Kontexte für Stillleben (Last Update: 08.08.2014)
Geht es um Vortäuschung von Realität?
Ja, manchmal... z.B.
in der Trompe-l’œil Malerei (frz. „täusche das
Auge“), einer absichtlich illusionistischen Malerei.
Ist denn ausgemacht, dass man überhaupt die Chance hat, zu so etwas wie einer Realität zu kommen,
es sei denn, man täuscht sie vor?
Samuel
von Hoogstraten, Steckbrett, um 1660, Öl auf Leinwand, 63 *
79 cm, Kunsthalle Karlsruhe
„Hoogstraten
hat in diesem Steckbrett Gegenstände seines persönlichen
Gebrauchs porträtiert, deren sinnbildliche Implikationen sicher
bewusst angesprochen werden. Papiere, Schreibgerät und zwei bei
Namen genannte Dramen des Malers deuten auf seine dichterische
Tätigkeit, die Brille (die er auf Porträts nicht trägt)
ist die Abbreviatur des Gesichtssinns und ein häufiges Abzeichen
des Malers. Die beiden Kämme erscheinen zunächst als
Gegenstände des täglichen Gebrauchs, sie können aber
zugleich auf die notwendige Reinigung der Seele und die Ordnung der
Gedanken verweisen. Schere, Messer und das aufgerollte Band können
neben einer mehr praktischen Erklärung ebenso (als Attribute der
Parzen) auf das Lebensende deuten. Diese Vanitaselemente werden
aufgewogen durch die sichtbare Demonstration des Ruhms, der dem Maler
zuteil geworden ist: eine Ehrenkette mit der Medaille Ferdinands Ill
und kostbarer Zierrat. Ein Brief schließlich erläutert den
Grund dieses Ruhms ebenso wie den Trompe I'oeil-Charakter des Bildes.
Sein Text verweist auf die bekannte Trauben-Anekdote und den
Wettstreit von Zeuxis und Parrhasius, dessen Wahrheit dadurch
bewiesen wird, dass Hoogstraten noch mehr gelungen ist, nämlich
den Kaiser mit einem Bild zu täuschen.
Dies
Stillleben ist deutlich ein Selbstporträt — so wie auch
lnterieurs als Reflex der Persönlichkeit des Bewohners
verstanden werden können. Beweist ein solches Selbstporträt
im Stillleben den Ruhm des Malers, den er gerade wieder mit einem
Trompe Foeil-Stillleben erworben hat, so ist doch der Künstler
damit nicht zufrieden. Um seinen Biografen und Schüler noch
einmal zu zitieren: »Obwohl das Malen von solchen Sachen ihm
seinerzeit viel Gewinn brachte, war sein Geist doch zu groß, um
sich damit aufzuhalten. Sein Werk bestand hauptsächlich aus
Porträts, Historien und Perspektiven in Zimmern ...« Die
drei hier genannten Begriffe umschreiben »höhere«
Genres, Kunstgattungen, bei denen Erfindungsgabe und
wissenschaftlicher Sinn des Künstlers mehr ausgedrückt
werden, als im bloßen »Abmalen« des Stilllebens (so
bedacht das auch ist.)“
(Jochen Becker, das Buch im Stillleben. In: Langemeier/Peters:
Stillleben in Europa, Münster: Westfälisches Museum/Badeb
Badeb: Staatliche Kunsthalle 1979)
Ambrosius
Bosschaert, Blumenstück, um 1620, Öl auf Holz, 64 * 46
cm, Mauritshuis, Den Haag
„Aber
welche Natur ist hier porträtiert? Die Blumen sind mit
kalligrafischer Akribie, die Landschaft im Hintergrund ist dagegen
mit harmonisierender Unschärfe gezeichnet. Die exakte
Darstellung der Blumen im Vordergrund ermöglicht es uns, deren
Gattungen botanisch genau zu bestimmen. Das verbindet sich mit einem
Landschaftsbild in extremer Fernsicht, dem diese Differenziertheit
fehlt.
Ambrosius
Bosschaert zeigt das Bild einer paradiesischen Harmonie und
interpretiert durch die Form seiner künstlerischen Gestaltung,
durch Schönheit, Klarheit und Ausgewogenheit, den
Gesamtzusammenhang der von Gott geschaffenen Natur. Damit ist das
Bild von Ambrosius Bosschaert zugleich »botanisches
Blumenstück« und Zeichen eines neuen, visuell formulierten
Naturbegriffs, ist Antwort und Gegenbewegung zu dem in den neuen
Wissenschaften reflektierten Vorstellungen.
Auf
den Zusammenhang der neuen Naturdeutung und der Entdeckungsreisen
verweisen die beiden Schnecken im Vordergrund rechts. Sie stammen
nicht von der niederländischen Küste, sondern sind aus
Westindien importiert, Zeugnisse für den überseeischen
Handel, geschätzte Souvenirs und begehrte Sammelobjekte.
In
einer Zeit, die von einer wahren Sammelwut gekennzeichnet war, hat es
wohl manchen Sammler gegeben, der das, was er nicht erreichen konnte,
zumindest imaginär zu besitzen erstrebte. Das Stillleben als
imaginäre Sammlung verbindet die Funktion des Bildberichts mit
dem der Repräsentation. Der Besitzer solcher Stillleben kann
seinen Besuchern die Bandbreite seiner naturkundlichen Kenntnisse und
Interessen verdeutlichen. Kunst und Wissenschaft dieser Zeit waren
noch nicht getrennt. Kunstfertigkeit und Ästhetisierung der
Umwelt wurden noch nicht als störend für die
wissenschaftliche Forschung begriffen, im Gegenteil. Die angemessene
Form, auf eine Nautilusmuschel aus dem Pazifik zu reagieren, bestand
neben der Klassifikation und etwa einer Beschreibung ihrer
Fundumstände in der Ästhetisierung: Die Kostbarkeit der
Naturgelangte in die Hand eines Goldschmieds, der sie in Gold und
Silber fasste.“
(Gerhard
Langemeyer, Die Nähe und die Ferne, in: Langemeyer/Peters
Stillleben in Europa, Münster/ Baden Baden, Westfälisches
Landesmuseum/Staatliche Kunsthalle 1979, S. 20-24)
Jacob Marrell, Vanitas,
1637, Öl auf Leinwand, 93 *80 cm Kunsthalle Karlsruhe
„Es
ist kein Zufall, dass die Vanitas-Stillleben gerade in Leiden
aufkommen. Die theologische Fakultät in Leiden — damals
die führende Universität Hollands — war die Hochburg
eines kompromisslosen, strengen Calvinismus, von dessen Anhängern
gefordert wurde. allem Weltlichen zutiefst zu misstrauen, ein streng
moralisches Leben zu führen und alle Vergnügungen zu
meiden. Vanitas-Stillleben fanden aber auch außerhalb Hollands
große Verbreitung.
In einer abgestuften rundbogigen Mauernische versammelt Marrell
unterschiedliche Vanitas-Symbole: Zunächst fällt die große
gläserne Vase auf, in der ein Blumenstrauß steht. Auf ihr
spiegeln sich außer der an die Nische gelehnten Geige, dem
Notenbuch und derTabakspfeife‚ der Künstler vor seine
Staffelei‚ eine Frau, die auf ihn zukommt und sein
Atelierfenster. Die unaufhaltsam welkenden Blumen, derTotenkopf‚
die langsam verglimmende Lunte und die nagende Maus verweisen auf die
verrinnende Lebenszeit des Menschen. Gelehrsamkeit — darauf
wird mit den pergamentgebundenen Büchern verwiesen — und
literarischer Ruhm, symbolisiert durch die Schreibfeder im
Tintenfass, dürfen über die Vergänglichkeit nicht
hinwegtäuschen. Vergnügen lenken nur ab und verleiten die
Menschen dazu, ihre Zeit zu vergeuden: Dafür stehen die Geige
und das Notenbuch, in dem aus einem Liedertext zu entziffern ist:
»Hat er kein gelt im Seckel mehr ...« und »Wie
schön blüht uns der mey, schön Jungfräuwlein ...«
Die Fragwürdigkeit weltlicher Macht wird in den römischen
Münzen und der Medaille verdeutlicht, die ganz in den
Vordergrund gerückt sind. Verweisen die römischen
Kaisermünzen warnend aufden Untergang des einst so mächtigen
Römischen Reiches, so steckt in der Medaille eine damals ganz
aktuelle Anspielung: Sie wurde 1585 zur Hochzeit des Grafen
Friedrichs I. von Württemberg mit Prinzessin Sibylla von Anhalt
geprägt. 1637, als Marrells Bild entstand, musste der Enkel des
Grafen, aus seiner Herrschaft vertrieben, außer Landes sterben,
ihm nutzten Reichtum und Ruhm des Großvaters nicht mehr.
DerVanitas-Gedanke
wird auch verkörpert in den beiden Puttenskulpturen, die am
Ansatz des Nischenbogens angebracht sind. Beiden ist ein Totenkopf
beigegeben, der linke hält eine Sanduhr als Zeichen für die
verfließende Zeit, der rechte bläst Seifenblasen in den
Raum als Zeichen für die Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit
des irdischen Lebens.
Marrell
verbindet die Vanitas-Symbolik mit dem Thema der fünf Sinne, wie
es häufig auch in den Leidener Vanitas-Stillleben vorkommt. Die
Blumen zum Beispiel erinnern an das Sehen und Riechen, der Tabak an
das Riechen und Schmecken, für das auch die Zitrone steht. Das
Auge und den Tastsinn sprechen die Goldmünzen an, die Musik —
Geige und Notenbuch — das Ohr. Im Rahmen der Vanitas-Stillleben
bedeuten diese Allegorien, dass alles, was die menschlichen Sinne
aufnehmen, angesichts der Vergänglichkeit hinfällig ist.“
(Karl-Ludwig
Hofmann, Stilleben aus vier Jahrhunderten. Aus dem Besitz der
staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Baden: Landesbildstelle 1985)
Gustave Courbet, Asternstrauß, 1859, Öl auf Leinwand, 46 * 61
cm, Kunstmuseum Basel
„Dieses Stillleben ist ein
weiterer vereinzelter Vorläufer der erst seit 1862/63 intensiv
einsetzenden Beschäftigung Courbets mit der Stilllebenmalerei.
Courbet gibt hier helle Blumen
vor dunklem Grund wieder. Mit dieser von ihm auch später
beibehaltenen Anordnung folgt Courbet dem Vorbild niederländischer
Stillleben des 17. Jahrhunderts. Auch die ausgeprägte stoffliche
Differenzierung der Gegenstände und die genaue Angabe der
Blumenspezies rücken das Bild enger an die Tradition.
Exzentrische Anordnung des Straußes und >beau desordre<
der rechts verstreuten Blumen lassen an barocke Vorbilder denken, von
denen sich die gesuchte Schlichtheit der dargestellten Gegenstände
jedoch wieder unterscheidet.
Diese Einfachheit wirkt
erstaunlich angesichts der in der Inschrift links oben
ausgesprochenen Widmung des Bildes an Baudelaire. Courbet hatte
diesen im Juli 1859 zufällig an der Atlantikküste in
Honfleur getroffen. Statt eines vorgesehenen längeren
Aufenthaltes ist Baudelaire jedoch sogleich wieder mit Courbet nach
Paris zurückgereist. Das Leben auf dem Lande, gestand
Baudelaire, sei zu langweilig, er bevorzuge die künstliche Natur
in Paris. Der ihm gewidmete Blumenstrauß von Courbet muss
demnach für Baudelaire von provokativer Natürlichkeit
gewesen sein. Baudelaire, dem Dichter der 1857 erschienen >Fleurs
du Mal<‚ wurden hier Blumen gereicht, die — aus aller
menschlichen Bezüglichkeit zurückgewonnen — wieder
Blumen als Blumen waren.
Als Maler aber wird Courbet von
Baudelaire nach 1862 ausdrücklich gelobt: »Man muss
Courbet die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er nicht wenig
dazu beigetragen hat, den Geschmack am Einfachen und Ehrlichen wie
die desinteressierte absolute Liebe zur Malerei wieder zu Ehren zu
bringen« Gerade auf
diesen l′art pour l′art-Standpunkt, auf das interesselose
Wohlgefallen an der Malerei, scheint Courbets Blumenstrauß für
Baudelaire abzuzielen. Die kunstvoll inszenierte Schlichtheit des
Bildes, der »plebejisch irdene Topf« und der »gewöhnliche
Bauernteller« könnte von Courbetjedoch zugleich auch als
hintersinnige lnvektive gegen den hochartifiziellen Dichter gemeint
sein. »Verse machen«‚ so soll Courbet damals über
Baudelaire gesagt haben, »ist unanständig, anders sprechen
als alle Welt, das heißt für die Aristokratie posieren.«“
(Peter-Klaus Schuster, Stilleben,
in: Courbet in Deutschland, Hamburg 1978, S 225 - 257)
Paul Cézanne, Stilleben mit Früchten, 1885-1888
Aquarell über Bleistift,
23,8 * 31,8 cm, Museum der Bildenden Kunst Budapest
„Cézanne vermochte
an einfachsten Bildgegenständen eine in prachtvollem Kolorit
angelegte Formenvielfalt zu erörtern. Der Aquarellist, der die
»Sinneseindrücke
zur Grundlage seiner Sache« machte, konnte es sich leisten, die
Sicht auf die Dinge offener zu halten als je zuvor. Der Pinselduktus
wurde derart selbstsicher eingesetzt, dass die Farben ihrer eigenen
Logik zu folgen scheinen. Ohne im Geringsten den Zusammenhalt zu
gefährden, ist das stabilisierende Gefüge von einer
unvergleichlichen Lebhaftigkeit der Farben und Pinselzüge
aufgewogen. Als ob lichtdurchlässige Farbsplitter übereinander
lägen, entstanden kaleidoskopisch ineinander verkeilte Facetten,
deren ganz dem malerischen Impetus hingegebener Zuschnitt durch den
mehr oder weniger zarten Druck des Pinsels auf das Papier erzeugt
ist. Aus unterschiedlichsten Farbindividualitäten, die entweder
mit breitem Pinsel großflächig aufgesetzt sind, um
andererseits in einem Gespinst schmaler, meist dunkelblauer
Farbstränge und kleiner Tupfer zu bestehen, sind Farbpolyphonien
von äußerster Feinheit erwachsen. Innerhalb einer an sich
beschränkten Farbigkeit ist der Reichtum der Farbwirkungen, ihre
Orchestrierung in zartesten Harmonien und volltönenden Akkorden
einzigartig. Es erstaunt immer von neuem, wie aus nur wenigen am
Objekt ausgemachten Farben und deren Derivaten ein Bild
organisiert ist.
Sicher aber, bedurfte es des
unfehlbaren Wissens um die Formgestaltung durch Farbmodulationen. Was
Cézanne darunter verstand, ist an den bevorzugten Rundformen
der Stilllebenobjekte, an den Früchten und Schalen, den Dosen,
Karaffen, Gläsern und Krügen zum Ereignis geworden. Der vom
lateinischen >modus< abgeleitete Begriff gibt in der Musik die
Überführung von einer zur anderen Tonart an; außerdem
hat er mit dem Modul genannten Grundmaß verschiedener Bauteile
zu tun. Der Künstler charakterisierte damit ein Vorgehen, das
die modellierende Volumenbildung in graduellen Grauabstufungen vom
Weiß zum Schwarz der Schatten durch die Verwendung meist
konzentrisch angelegter Buntfarben modifizierte. Dem Spektrum
ähnlich, reichen sie mit Violett, Blau, Grün, Gelb, Orange
und Rot, von fernen dunklen, kalten Farben zu lichten, warmen, nahen
Tönen. Mit dieser in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre
ausgearbeiteten »Logik der Farbsetzungen«
wollte Cézanne einer ständigen Veränderungen durch
Licht und Reflexe ausgelieferten Wirklichkeit, aber auch dem farbigen
Zusammenhalt der Komposition in höherem Maße gerecht
werden, als es durch Modellierungen möglich gewesen wäre.
In zwei bezeichnenderweise an Pissarro gerichteten Briefen, ist schon
1874 die Rede davon, dass anhand der Natur »die Modellierung
durch das Studium der Töne«
ersetzt werden müsse.“
(Götz Adriani, Paul Cézanne,
Aquarelle, Köln 1982, S. 82 ff.)
Pere Borrell del Caso, Flucht vor der Kritik, Öl auf Leinwand
(1874)
Realität ist überbietbar.
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